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Sciss: Azoiphon

Plattenlabel : Tabu 2000 (Vertrieb: A-Musik) Genre : Ambient
Spieldauer : 65:10 min Preis : ca. 30 DM

Synthesizer, Sampler und Computer haben die Musik zu einer niveaulosen Massenware verkommen lassen. Jeder auch noch so talentfreie Möchtegernmusiker kann mit prozessor- und schaltkreisunterstützter Hilfe eine belanglose Melodie mit einem ähnlich belanglosen aber eingängigen Rhythmus unterlegen. Dazu noch schnell ein einfältiger Text komponiert und fertig ist der Kassenknüller. Ein Blick in die Popcharts verifiziert diese These und liefert kulturpessimistischen Bedenkenträgern reichlich Argumentationsmaterial. Doch natürlich ist nicht alles Schrott, was aus den Mühlen der CD-Pressen kommt, bringen bereits aufgrund des Gesetzes der großen Zahl zwangsläufig auch Pop- und Rockmusik so manches musikalische Kleinod hervor. Vor allem aber gibt es gerade auch im Bereich der auf die elektronische Spitze getriebenen künstlichen Musik, des rein im Synthesizer und Computer entstandenem Techno und Ambient ernsthafte Bemühungen, die Musik nicht nur als Anleitung zum Hochgeschwindigkeitstanz, sondern als künstlerisches Ausdrucksmittel zu verstehen. "Aphex Twin", der Vater des "Techno für Erwachsene" war ein recht populärer Vorreiter dieses Trends, der freilich noch viel weiter zurück reicht. "Sciss", der mit "Azoiphon" sein Debütalbum beim weithin unbekannten (und ebenfalls neuen) Plattelabel Tabu Rec. vorgelegt hat und dessen Pseudonym angeblich auf eine Figur aus einem Roman des Science-Fiction-Autors Stanislaw Lem zurückgeht, gehört zweifelsohne nicht zur eingangs erwähnten Kategorie der Fließbandmusiker. Die die CD anpreisende Presseinformation lässt jedoch befürchten, dass der in Berlin lebende Musiker vielleicht ein Stück über sein Ziel, anspruchsvolle elektronische Musik zu schaffen, hinausgeschossen sein könnte. Im Stile eines musikwissenschaftlichen Seminars wird da verquast von "`entnaturalisierte(m)' Material" gefaselt, in dem "melodische Elemente" nur deshalb auftauchten, um "Kontrast und Balance" herzustellen, wobei "Geräusche und Geräuschkonstruktionen gleichberechtigt die Identität eines Stückes formen (ähnlich wie vielleicht in der Musik von Pole, Autechre, usw.)". Das klingt reichlich abgehoben und der Rezensent, dem der ideologisch-theoretische Unterbau fehlt, um derartiges nachvollziehen und bewerten zu können, ahnt Schlimmes. Da ist es auch nicht wirklich hilfreich, dass die Presseinformation verkündet, bei "Azoiphons Klangquellen" handele es sich um "zwei digitale Synthesizer, die zusammen mit Splittern aus dem Internet und dem Rundfunk einen Sampler speisen". Sollte da jemand den Splitter im Datennetz seiner Nachbarn, nicht jedoch den Balken vor dem eigenen Kopf gesehen haben ? Bevor diese Rezension sich weiterer an den Haaren herbeigezogener Vergleiche bedient, sei jedoch an dieser Stelle der in solchen Angelegenheiten übliche Warnhinweis ausgesprochen. Bei "Sciss" handelt es sich um Hanns Holger Rutz, den altgediente "Gadget"-Leser noch von seinen Beiträgen (und den dem von ihm mitbetreuten Jugendmagazin "Spunk" entnommenen Artikeln) kennen dürften. Es kann mithin nicht gewährleistet werden, dass die Bewertung völlig unparteiisch und unvoreingenommen erfolgt, wenngleich der Rezensent versichert, nach bestem Wissen und Gewissen so objektiv wie möglich zu urteilen.

Schon das erste Stück, "Igelfarn", macht deutlich, wohin die musikalische Reise geht. Einem wie in einiger Ferne abklingenden Ton folgt ein verfremdetes Sprachsample ("I don't have figures with me" oder etwas ähnlich bezugloses), das nicht nur sofort wiederholt wird, sondern auch im weiteren Verlauf noch ab und an wieder sporadisch auftaucht. Dann entwickelt sich ein vor allem aus verschiedenen, übereinander gelagerten Rhythmen komponierter Klangteppisch, aus dem heraus bisweilen Fragmente einer zarten Melodie erklingen. Während manche Motive in immer wieder neuen Konstellationen wiederholt werden, sirrt und zirpt der Synthesizer, ohne eine sinnvolle Einteilung in Strophen oder gar Refrains zu ermöglichen - ein Charakteristikum auch der anderen "Azoiphon"-Titel. Ein wenig homogener wirkt dann jedoch "Schlacke", das zweite Stück der CD. Das liegt vor allem an einem einigermaßen regelmäßigen Grundrhythmus und der insgesamt etwas klareren Klangführung und ruhigeren Instrumentierung - von der Radiotauglichkeit ist aber auch dieser Titel freilich so weit entfernt wie Stockhausen von Stock, Aitken und Waterman. "Schlacke" macht dabei seinem Namen alle Ehre, wirkt die Musik doch ein wenig wie durch eine zähe, dickflüssige Masse gedämpft. Ein Eindruck, der durch sparsam eingestreute, seltsam guturale Sprachsamples noch verstärkt wird.

Weiter geht es auf dieser Reise "in Richtung experimentellen Ambients" (Presseinformation) auf der "Keulenallee". Und hier wird die Geschwindigkeit wieder ein wenig gesteigert. Getragen von tiefen Beats entwickelt sich ein schon beinahe tanzfähiges Stück, bei dem freilich die Synthesizer den Hörer erneut mit einer Vielzahl aufs Vertrackteste miteinander kombinierter fremdartige Klänge konfrontieren. Es schließt sich das sechs Minuten lange "Beschützer" an. Und auch hier gelingt es "Sciss" - freilich nur in einem gewissen Rahmen - lautmalerisch tätig zu werden. Trotz der eingangs bisweilen dissonanten Klänge, wirkt das Stück in der Tat beruhigend auf das vegetative Nervensystem ein, weckt eine gewisse Stimmung von Beschütztheit und Geborgenheit. Das liegt nicht zuletzt an den (erneut natürlich sehr minimalistischen) Melodiefragmenten, die bisweilen gar an Orgelklänge erinnern und in denen "Sciss" einmal mehr zeigen kann, dass er durchaus auch wohlklingende Harmonien erzeugen kann - wenn er es denn will.

Derart populärmusikalische Anwandlungen werden dann aber schnell überwunden und bei "Yves" (der Name taucht auch in der Dankesliste im CD-Booklet auf, so dass man hier wohl von einem gewissen Bezug zu einer real existierenden Person ausgehen darf) regiert wieder über weite Strecken die Atonalität, wenngleich auch hier ein kleines Melodiefragment immer wieder erklingt . Dabei spielen diverse Sprachsamples eine wichtige Rolle, die ausnahmsweise zwar verfremdet, aber weder verzerrt noch verrauscht klingen und den Eindruck erwecken, als wären sie nicht aus einer externen Quelle (Internet, Rundfunk) beschafft, sondern eigens für das Stück erzeugt worden. Die einzige halbwegs verständliche Sentenz wird dann mit französisch klingendem Akzent ausgesprochen, so dass auch hier ein gewisser Bezug zum Titel des Stückes hergestellt wird. Zu den weitgehend weichen Tonsequenzen von "Yves" stellt der Auftakt des sechsten Stückes, "Lungenbäume", einen deutlichen Kontrast dar. Abgehackte Rhythmen und sterile Klangsequenzen schaffen eine merkwürdig kalte Atmosphäre, wobei "Sciss" hier geschickt mit dem Stereo-Effekt spielt und einen pulsierend ausklingenden Ton wiederholt durch den Raum wabern lässt. Der Anfang von "Blinder Zaungast", dem nächsten Titel auf der CD, erinnert nun verblüffend an einige Samples von "How To Measure A Planet?", dem letzten Album von "The Gathering" (vgl. Rezension in "AmigaGadget"#42). Doch damit sind die Ähnlichkeiten auch schon so gut wie erschöpft. Bemerkenswert ist des Weiteren vor allem auch ein Gurren, welches im Verlaufe des Stückes regelmäßig erklingt und im ornithologisch ungebildeten Rezensenten eher das Bild eines Zaunkönigs als das eines Zaungastes weckt.

Auch wenn der Titel des nächsten Stückes gegenteilige Hoffnungen oder Erwartungen weckt, so ist "Jeder Pol des Herzens" doch beileibe keine gefühlsselige Schnulze. Statt dessen erwartet den Hörer ein wieder deutlich unruhigeres Stück, ein Eindruck, der durch scheinbar abgehackte, abgebrochene Töne noch verstärkt wird. Ein melodiöser Überbau ist nur rudimentär vorhanden, eine in ständiger Wiederholung leicht variierte Rhythmusfolge sorgt für den Zusammenhalt - und etwas nach der Hälfte der Spielzeit wird auch noch ein kleines Sprachsample eingeworfen. "Passim" beginnt dann mit einigen sehr interessanten Geräuschen und vor allem einer äußerst ausgefallenen Tonsequenz, die dann freilich in für die CD typischer Manier wiederholt, verfremdet, moduliert und variiert wird. Das Stück sticht vor allem aufgrund des über weite Strecken vergleichsweise flotten Rhythmus hervor, der von sich langsam aufbauenden, langgezogenen Tönen treffend konterkariert wird. Und auch hier gibt es wieder ein in die zweite Hälfte des Stückes eingeworfenes Sprachsample. Die CD endet nun mit "Aureole", einem neun Minuten langen Stück, das nicht nur einige sehr hübsche Melodielinien enthält, sondern auch von einem wunderbar verschleppten Rhythmus behutsam vorangetrieben wird, der gelegentlich sogar von trommelwirbelartigen Sequenzen unterbrochen wird. Damit stellt das zum Ende hin zeitweise deutlich schneller werdende "Aureole" den würdigen Ausklang eines ungewöhnlichen Albums dar.

In Zeiten der multimedial aufgebohrten CDs und der Hochglanzbooklets ist aber auch die Aufmachung der CD ungewöhnlich - und zwar ungewöhnlich karg. Das Booklet ist gerade mal vier Seiten dünn und enthält in den Danksagungen des Künstlers mit der Formulierung über den geleisteten "moral support" vor allem einen äußerst unschönen und überflüssigen Anglizismus. Doch selbst das schmale Budget der kleinen Plattenfirma und die Beschränkung auf Grautöne ändern nichts daran, dass das Cover sehr gelungen ist und hervorragend zur CD (und insbesondere zu den Namen der einzelnen Stücke) passt. Es zeigt einen in einer wild bewachsenen Wiese wie ein Fremdkörper aus einer Welt der Technik in der Natur stehenden Mähdrescher, dessen fünfeckige Dreschaufhängungen überdies fliegenden Untertassen gleich losgelöst auf den anderen Seiten des Booklets (und auf der Rückseite der CD-Hülle) schweben.

Eine abschließende Bewertung in musikalischer Hinsicht fällt nicht leicht. Wer der Ansicht ist, Musik habe nicht die Wirklichkeit abzubilden, habe nicht nur induktiv real Vorhandenes aufzunehmen und zu verarbeiten, sondern schöpferisch Neues zu gestalten, wird mit der CD ähnlich wenig anfangen können wie Freunde des Wohlklanges und der Harmonielehren. Wer den intellektuellen Klangexperimentator Steve Reich und ähnliche Avantgardisten verehrt, darf andererseits unbesorgt zugreifen. (Und wer von der Musik von "Sciss" gar nicht genug bekommen kann, wird mit Freuden zur Kenntnis nehmen, dass seit kurzem eine 12"-Maxi namens "Autour / Entre" mit weiteren Ambient-Stücken des Künstlers erhältlich ist.) Eines steht aber auch ganz allgemein fest: "Azoiphon" (das Wort bedeutet der Presseinformation zufolge angeblich in etwa "Welt ohne Lebewesen") ist alles andere als ein Konsumartikel - und bleibt dementsprechend denjenigen vorbehalten, die das Besondere schätzen, auch wenn es alles andere als leichte Kost ist und bei weitem nicht jedermanns Geschmack treffen wird. Gelegentlich machen Synthesizer, Sampler und Computer die Musik eben doch zu einem innovativen und anspruchsvollen Erlebnis.

(c) 2000 by Andreas Neumann

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