grundlagen

HANS-JOACHIM STENGERT * Ehrenmalstr. 15 * 47447 Moers * 05-12-99

Millennium

Dem Wunsche unseres verehrten Herausgebers gerne nachkommend, möchte ich hier das vergangene Jahrhundert so darstellen, wie es sich mir rückblickend vorkommt, nämlich als

- das Jahrhundert des fehlenden Tagebuches.

In den nun fast 80 Jahren meines Lebens habe ich Aufstieg und Fall des Dritten Reiches, den Zweiten Weltkrieg an der Front und im Bombenhagel auf Berlin, die Besatzungszeit, den Wiederaufbau und den Wiederaufstieg der deutschen Industrie hautnah und zum Teil aktiv miterlebt. Aber denkt irgendeiner, ich hätte mir von den wichtigsten Vorkommnissen (die in Jahrhunderten so nicht wieder auftreten werden) wenigstens ein paar Notizen gemacht und ein paar Daten festgehalten, die das Gedächtnis stützen und das, was da gerade geschah, für später illustrieren könnten? -

Nichts dergleichen! Kein Tagebuch, keine "geheimen Aufzeichnungen", nichts Schriftliches aus all der historischen Zeit. Und ich stehe nicht allein da; fast alle haben wie ich offenbar angenommen, das würde man schon behalten. Und wenn man mitten drin steckt, kommt einem das Weltbewegende des Geschehens nicht so zum Bewusstsein. Ich kenne nur einen, der sich als Soldat in Russland aufgeschrieben hat, wo sie so alles vorbeimarschiert sind. Sogar meine damalige Telefonnummer hat er noch. - Aber sonst? Nix Schriftliches. Und das scheint mir ein Kriterium dieser bewegten Zeit zu sein. Und dabei ist doch einiges passiert.....

Zum Beispiel 1920: da wurde ich geboren. (Kein Tagebuch, konnte ja noch nicht schreiben.) - Mit 13 machte ich mit den Pfadfindern oder der Hitler-Jugend (siehste, es geht schon los, das weiß ich nämlich nicht mehr) eine Fahrt nach Italien per Eisenbahn. Auf dem ersten österreichischen Bahnhof wurden wir an unseren Uniformen erkannt, und die Leute riefen begeistert "Heil!" und "Heil Hitler! und wollten offensichtlich schon damals den Anschluss an Deutschland. In Italien gab es im Radio gleich eine flammende Rede des "Duce" Mussolini. (Keine Notizen. Schließlich kommt jeder mit 13 mal nach Italien und fährt mit einer Segelyacht über die Adria.)

Nur mit 16, da ist mir etwas gelungen, was meinem Thema widerspricht. Da habe ich einen langen Bericht über eine Ruderfahrt über die Seen nördlich von Berlin geschrieben. Den habe ich heute noch. Aber von der Mitwirkung bei der Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 als Fahnenschwinger: kein Wort.

Schön, man hatte für die Schule genug zu schreiben, und niemand ahnte zunächst, was da alles noch auf uns zu kommen würde. - Dann nach dem Abitur 1938 Arbeitsdienst, zunächst harmlos mit Bäume fällen, Beete rigolen; bis es plötzlich im Sommer 1938 in den äußersten Westen ging, hinter Herzogenrath: und da waren wir plötzlich Teil einer gigantischen Baumaßnahme. Hier wurde der "Westwall" gebaut! Wir Arbeitsmänner brauchten zwar nur kilometerweit Stacheldraht zu ziehen. Aber in den Wäldern entstanden massenhaft Betonbunker mit Schießscharten. Die meisten waren damals schon fertig, und man hätte schon drauf kommen können, dass sich da was anbahnt. - Keine Notizen.

Herbst 1938: Wehrmacht, freiwillig, wegen anschließend beabsichtigten Studiums. Luftnachrichtentruppe, Rekrutenzeit in Stettin. Im Sommer 1939 Bordfunkerschule Nordhausen am Harz. Abgebrochen, weil sie mich für 12 Jahre festnageln wollten. Zurück nach Stettin. Die Ruhe vor dem Sturm. - Nichts zu notieren.

Herbst 1939: der Krieg war da. Verlegung nach Reichenbach in Schlesien (Eulengebirge), erstmals als Luftmeldesammelstelle (LMS) im Polenfeldzug. (Ich war Funker.) Als Stabsstelle war man nicht direkt in Kriegshandlungen einbezogen, die Mädchen da unten haben uns mehr interessiert als der Krieg. (Keine Aufzeichnungen. Wir siegten ja sowieso.)

Die Standorte wechselten schnell: ein paar Wochen Wien (aha! Der Anschluss war vollzogen), dann Anfang 1940 nach Hamburg (wir hätten Kilometergeld verlangen sollen...), dort immer noch LMS, Abstellung nach Lübeck zum Kampfgeschwader 26 (Heinckel He 111), und mit denen war ich plötzlich nach unserer Eroberung von Dänemark und Norwegen auf dem Flugplatz von Stavanger, von wo uns allerdings die Engländer schnell mit ihren Bomben vertrieben. - Über Dänemark und Lübeck zurück nach Hamburg. Anfang Juli erfolgte der erste engl. Bombenangriff auf Hamburg.

Nicht deswegen, sondern wegen der Verlegung der LMS weiter nach Norden, näher an die Operationsgebiete unserer Bomber heran, waren wir kurz darauf wieder in Stavanger, wo wir bis Ende 1940 blieben (Weihnachtsfeier, ich als Weihnachtsmann), Silvester in Bayern, Anfang 1941 in Sizilien! (Wieder kein Kilometergeld, und kein Tagebuch!)

Nach ein paar Wochen Sondereinsatz mit eigener Funkstelle in Afrika (Rommel jagte gerade die Engländer nach Ägypten zurück), zumeist in Derna als Verbindungsstelle zwischen Fliegerführer Afrika und Rommel. Dieses fast das ganze Jahr über. Aber denkt jemand, ich hätte da an meinen Memoiren gebastelt? Nix da. Obgleich ich dort mehrere Schulfreunde wiedertraf, unseren Klassensprecher als Stuka-Flieger. Wir haben auf der Tragfläche seiner Ju 87 gesessen und von alten Zeiten geplaudert.

Schön, ich habe fleißig Briefe geschrieben "an die Lieben daheim". Nicht nur an meine Eltern, sondern auch an diverse Freundinnen, so dass im Ganzen wahrscheinlich ein ziemlich anschauliches Bild der Ereignisse zustande gekommen ist. Aber das hat mir alles nichts genützt, denn keiner hat meine Briefe aufbewahrt und falls doch, so sind sie durch die folgenden Kriegsereignisse verloren gegangen. Und ein Tagebuch habe ich noch immer nicht geführt...

Ende 1941 hatte ich zwei Jahre Fronteinsatz hinter mir und durfte daher ein Semester Studienurlaub nehmen. Physik an der Humboldt-Universität in Berlin. Und Wiedersehen mit den Freundinnen... (Am Himmel über Berlin war es damals noch friedlich. Kein Tagebuch.)

Über München zurück nach Afrika. Und da schlug das Schicksal zu: Verwundung, rechte Hand ab --> heim ins Reich. Lazaretts in Athen, Wien, Berlin. Dort weitere Genesung, u. a. Massage meines verbliebenen Unterarms durch freiwillige Helferinnen. Meine war die Schwester von Reichsmarschall Göring und hat mich auch mal zu sich zum Kaffee eingeladen. Es gab Brötchen mit gekochtem Schinken, damals schon etwas Besonderes.

Mitte 1943 Entlassung aus der Wehrmacht, Fortsetzung meines Studiums an der TH Charlottenburg, diesmal als zukünftiger Wirtschafts-Ingenieur, wenn auch mit einer Hand. (Das wäre mal ein feiner Grund gewesen, kein Tagebuch zu schreiben. Aber ich habe sehr schnell ordentlich mit links schreiben gelernt, so dass es an sich leicht gegangen wäre. Aber denkste!)

1943 fielen auch die ersten Bomben auf Berlin, und ausgerechnet auf das ehrwürdige und mit wertvollem Lehrmaterial angefüllte Hauptgebäude der Hochschule. Alles Asche. In der Folgezeit mussten wir immer wieder in neue Gebäude für unsere Vorlesungen, aber irgendwie ging es immer. Vorbereitungen für das Vorexamen im Herbst 1944, Examen Anfang 1945 im zerbombten Berlin, die Russen standen zum Angriff bereit hinter der Oder.

Und die waren dann ja auch Anfang Mai in Berlin und nahmen uns zuerst die Fahrräder und die Uhren weg. Aber sie gaben uns auch was zu essen. Die folgende Zeit war auf das Beschaffen von Essen ausgerichtet, woraus sich, erst recht nach dem Eintreffen der Amerikaner in Berlin (wir wohnten in "ihrem" Sektor) ein recht schwunghafter Schwarzhandel entwickelte, der es mir ermöglichte, im Sommer eine Tanzschule zu besuchen (Turniertanz, wie früher, nur jetzt mit einer Hand) und dortselbst meine heutige Frau kennen zu lernen. (Gern wüßte ich heute noch, wie die Preise damals im einzelnen waren auf dem Schwarzmarkt und mit was wir alles gehandelt haben, aber wieder nichts Schriftliches.)

1948 haben wir dann geheiratet, kurz nach Einführung der D-Mark. Mein Studium konnte ich erst 1951 abschließen, aber schon 1952 wurde ich das erste Mal nach Amerika geschickt (Materials Handling), und 1954 konnte ich bei Thyssen in Duisburg als Materials-Handling-Ingenieur anfangen, mich um die diesbezügliche Rationalisierung zu kümmern.

1958 konnten wir mit Thyssens Hilfe ein eigenes Haus beziehen, mit inzwischen 2 Kindern. Aufzeichnungen existieren nicht, dafür viele Fotos. Meine Frau behauptet, ich hätte jeden Stein extra fotografiert!

Bis 1980 bei Thyssen treu gedient, zuletzt in der Zentralrevision, dann in Pension gegangen, die nun schon 20 Jahre dauert. Mittendrin das Computern angefangen, zuerst C 16, dann Plus/4, jetzt A 1200, aber auch Mac und Windows PC. Mitarbeit bei historischen Disk-Mags von Amiga Juice über GeTiT und A&M-Info bis zum vorliegenden Gadget. Ich bereue nichts.

Nur, Freunde, zum Schreiben irgendwelcher Tagebücher bin ich nicht gekommen. Aber wenn man sich das Obenstehende so ansieht, bekommt man doch den Eindruck, daß in meinem alten Gehirn noch allerhand an Erinnerungen erhalten geblieben ist, so dass man zum Schluss, rückblickend auf 80 Jahre dieses Jahrhunderts, fröhlich fragen kann:

Wozu brauche ich überhaupt ein Tagebuch?

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