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Das Attentat

Er zählte die Dachantennen, zwischen denen er nun schon seit einer Stunde regungslos lag, und die munter das helle Sonnenlicht reflektierten. Zweiundzwanzig. Sanft strich der Wind durch sie hindurch und entlockte ihnen ein leises Klagelied. Behutsam ergriff seine rechte Hand den Griff des Präzisionsgewehres. Statt des erwarteten kühlen Stahls stellte er fest, daß die Waffe durch die lange Zeit, die sie unter seiner Kleidung verborgen war, die Temperatur seines Körpers angenommen hatte. Er wußte genau, was er tun mußte.

Jeder Handgriff war bis ins Detail geplant. Das Gewehr war ihm nun zu einem Vertrauten geworden. Sie bildeten eine Einheit, eine einzige tödliche Waffe. Von einer inneren Ruhe überflutet, lauschte er dem Raunen der Menschenmassen unter ihm. Sie alle warteten auf den mächtigsten Mann des Landes, den Präsidenten.

Noch war die abgesperrte Straße leer, noch dampfte der von der Sonneneinstrahlung erhitzte Asphalt. Er war froh, hier oben ein wenig Kühlung zu haben und ließ unwillkürlich seine Gedanken in die Vergangenheit schweifen.

Er war noch ein kleiner Junge gewesen, als der Präsident bereits im Amt war. Und schon damals regierte dieser mit Zuckerbrot und Peitsche. Er erinnerte sich noch genau an jenen Abend, als die Spezialeinheiten der Regierung wie ein unheilbringender Schwarm Heuschrecken ihr Dorf heimgesucht hatten. Sie waren aus ihren schwarzen Militärwagen gesprungen, hatten sich Männer jeder Altersgruppe und jeder sozialen Schicht gegriffen und sie mit vorgehaltenen Waffen wie Vieh auf dem Marktplatz zusammengetrieben. Und dann die Exekution, die einzige Erinnerung, die sein Hirn abzurufen sich weigerte. Wann immer er es versuchte, es gelang ihm nicht. Aber er wußte, daß sie da war. Er wußte es, Nacht für Nacht, wenn er schreiend aufwachte  -  ein letztes Schreckensbild dieser Hinrichtung vor Augen, das verschwand, bevor er es begreifen konnte.

Der frenetische Jubel, als die schwarze Limousine von einer Polizeieskorte begleitet um die Ecke bog, riß ihn aus seinen Gedanken. Er beobachtete das Fahrzeug, wie es anhielt, und schulterte sein Präzisionsgewehr. Dann blickte das Auge des Attentäters durch das Fadenkreuz. Der Präsident, ein smarter Mann, der trotz seines Alters äußerst vital wirkte, stieg aus und winkte den Leuten zu. Eine schwarze Sonnenbrille, die er in der Öffentlichkeit immer trug, verdeckte seine Augen.

Als er die Hände zum siegessicheren Gruss erhob, schwoll der Jubel der Massen zu einem tosenden Sturm an.

Der Attentäter blickte am Zielfernrohr seines Gewehres vorbei. Nur vier Leibwächter zusätzlich zur üblichen Polizeieskorte. Der Präsident war in den letzten Jahren etwas zu selbstsicher geworden. Heute sollte ihn diese Schwäche das Leben kosten. Der Attentäter sah wieder durch das Fernrohr und justierte mit sicherer Hand das elektronische Fadenkreuz auf die Mitte der kahlen Stirn seines Opfers. Er verspürte kein Mitleid. Er spürte gar nichts. Er hatte sich selbst zu einer Maschine gemacht, die einen definitiven Befehl ausführen mußte. Sein Finger bog sich um den Abzug.

In seiner Konzentration erschienen ihm nun die Laute aus der Welt um ihn herum wie durch eine dicke Watteschicht gedämpft. Nur ein leises Klicken durchriß diese Stille, bevor die Kugel den schallgedämpften Lauf seines Gewehres verließ. Er hatte das Klischee nie glauben wollen, doch die Zeit schien plötzlich verlangsamt abzulaufen. Er sah, wie das Geschoß sein Ziel fand, und der Körper des getroffenen Präsidenten von der Wucht des Aufpralles zurückgeworfen wurde. Noch bevor sich einer der Leibwächter schützend auf den Körper werfen konnte und seine Kollegen das Feuer in Richtung seines Verstecks eröffneten, erhaschte er einen letzten Blick auf sein Opfer. Die Brille des Präsidenten war verrutscht und er konnte ihm direkt in die Augen sehen. Und plötzlich wußte er, daß er diesen Ausdruck schon einmal gesehen hatte. Vor langer, langer Zeit  -  als er noch ein kleiner Junge war.

Und der Wind spielte auf den Dachantennen ein leises Klagelied.

© Oliver Riedel und Andreas Neumann

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